Mai 2015
Roland Tichy ist Absolvent der Deutschen Journalistenschule und studierte Volkswirtschaft, Politik und Kommunikationswissenschaften. Er leitete das Berliner Büro des Handelsblatts und war von Juli 2007 bis Juli 2014 Chefredakteur der WirtschaftsWoche. Derzeit ist Roland Tichy als Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V. politisch und publizistisch aktiv. Tichy ist Herausgeber des Internet-Meinungsmagazins „Tichys Einblick“ auf www.rolandtichy.de.
In Deutschland lässt sich ein sehr zwiespältiges Verhältnis vieler Menschen zu Technik und Innovation beobachten: Während bei Konsumentenprodukten und im Internet Neuerungen oft begeistert, bisweilen sogar geradezu naiv angenommen werden, steht eine große und noch wachsende Zahl von Bürgern immer mehr Techniken, die von ihrer Lebenswirklichkeit weiter entfernt sind, wie Rohstoffförderung (insb. sog. Fracking), Energieversorgung (Kernenergie, Kohle) oder Agrotechnologie (insb. Gentechnik) offen feindselig gegenüber? Woher kommt Ihrer Meinung nach dieser Zwiespalt?
Diese Art von Dissonanzen entstehen, wenn Nutzen und Schaden bzw. Kosten weit auseinander fallen. Man sieht das an der jüngsten Debatte über die erstaunlichen Lohnforderungen von Erzieherinnen in Kitas: Viele Eltern haben dafür Verständnis und marschierten auf die Rathäuser, um die Lohnerhöhungen zu unterstützen. Sie erkaufen sich damit ein schnelles Ende des Streiks und vielleicht besser gelaunte Erzieherinnen für ihre Kinder – die Kosten trägt der Steuerzahler. Das Verhalten der Eltern ist also rational - sie kassieren die Vorteile, die Kosten tragen Andere. Das Verschleiern von Kosten ist eines der üblichen Verfahren und hohe politische Kunst, um sich politisch Vorteile zu verschaffen, ohne die Verantwortung übernehmen zu müssen. Staatsverschuldung zählt dazu - was stören mich heute die Zinsen, die spätere Generationen ächzen lassen? Sind dies meine Wähler heute? Wer wählt mich - die Begünstigten von Frühpensionierung, Mütterrente, Mindestlohn - oder die zukünftigen Beitragszahler? Zu überbrücken wäre diese Diskrepanz nur durch verantwortliche Haltung in Medien und Politik, die über einzelne Lobbyinteressen hinausblickt. Für Technologie ist es ganz ähnlich: Lange war Mobilfunk umstritten; die Debatte über die Schädlichkeit von Mobilfunkstrahlen laut und hörbar. Jetzt scheint der Vorteil eines tollen Smartphones die Nachteile für überempfindliche Menschen zu überwiegen; Ende der Debatte. Warum sollte ich Gefahren von Fracking in meiner Umgebung ertragen, wenn der Strom für mich doch aus der Steckdose kommt und die Kosten der Stromerzeugung weit weg anfallen; etwa bei Windrädern in der Nordsee? Wird meine Ernährungssituation durch Genfood besser? Wenn der Nutzen nicht individuell erfahrbar ist, werden die damit verbunden Risiken nicht getragen.
Für wie gefestigt halten Sie die Meinungen, die zahlreiche Techniken und Wirtschaftszweige ablehnen? Sind sie verinnerlicht oder kanonisiert, also bereits im Schulunterricht verankert, oder gibt es hier auch einen Medieneffekt, in dem der Produktion öffentlicher Empörung einer schweigende Mehrheit mit pragmatischerer Orientierung gegenüber steht.
Die Ablehnung ist gelernt, wie sich ja zeigt, wenn in Niedersachsen sogar Schülerlabors stillgelegt werden müssen. Die Ablehnung ist längst ideologisiert und in den Zustand einer gesamtgesellschaftlichen Sichtweise rechtlich verankert und kanonisiert. Frühe Kämpfer gegen die Kernenergie genießen Heldenstatus wie Soldaten der Roten Armee, die Deutschland befreit haben; Profiteure der Solar- und Windradindustrie gelten nicht als Geschäftemacher und Subventionsjäger, sondern als Innovatoren, Pioniere und Weltverbesserer. Transportiert wird dies durch eine gleichgerichtete Sicht von Politik und Medien; über die Wirkmechanismen der Medien habe ich an anderer Stelle geschrieben, z. B. hier. Medien wirken verstärkend und selektieren die verbreiteten Sichtweisen und Argumente; über die Archivfunktion schreiben sich alte Sichtweise gewissermaßen selbständig fort.
Wie sehen Sie die künftige Entwicklung: besteht eine Chance die Menschen mit „unbeliebten“ Techniken zu versöhnen bzw. pragmatisches Verständnis zu erreichen, oder muss man sich in Wirtschaft und Politik damit abfinden, dass Skepsis und Misstrauen vieler Menschen gegenüber Technik und Industrie stetig wachsen?
Die Individualisierung von Verhaltensweisen wird dies schwer machen. Nehmen wir scheinbar unpolitische Themenfelder: Wie soll ich als Bürger von Stuttgart ein Dutzend lauter und schmutziger Jahre für den Bau eines teuren Bahnhofs hinnehmen, wenn die „Erträge“ in Form besserer Innenstadtentwicklung bei mir altersbedingt gar nicht mehr ankommen? Nimby, not in my BackYard, ist die politische Erfolgsformel. Das wird schnell zur gesamtwirtschaftlichen Maßgabe; warum sollte ich eine Stromtrasse ertragen oder einen Windpark? Ich? Häufig werden so ja auch neue Lösungen erzwungen, etwa (teure, nicht von mir finanzierte) unterirdische Kabel oder weniger aufwändige Stromtrassen. Allerdings bleiben das regional begrenzte Aktionen, solange eine Art gesamtgesellschaftlicher oder religiöser Überbau fehlt: Kernkraftgegner waren ja weniger die jeweiligen Anwohner, die auch die Vorteile über Jobs und Gewerbesteuer sehen konnten, sondern eine aus einer gefühlten Gesamtverantwortlichkeit handelnden Demonstrationsbewegung, die sich schließlich zu einer Partei verselbständigte, die daraus wiederum das Mandat ableitet, auch andere Fortschrittsformen zu bekämpfen: IT-Industrie, Handy, Gentechnik, Verkehrstrassen. Dagegen ist schwer anzukämpfen, solange Politik auf Führung und Überzeugungsarbeit verzichtet und Medien ziemlich einseitig technikfeindliche Positionen übernehmen.