März 2017
Dr. Christian Raetzke ist Rechtsanwalt. Seit 20 Jahren beschäftigt er sich hauptsächlich mit dem Atom- und Strahlenschutzrecht, sowohl in Deutschland als auch international. Er promovierte 2000 mit einem Thema aus dem Atomgesetz. Von 1999 bis 2011 arbeitete er für E.ON Kernkraft (jetzt PreussenElektra) in Hannover. Seit 2011 führt er seine eigene Kanzlei in Leipzig und berät Unternehmen der Kerntechnik, Institutionen und Behörden im In- und Ausland.
Dr. Raetzke ist Dozent und Beiratsmitglied der International School of Nuclear Law in Montpellier und hat mehrere Bücher und zahlreiche Aufsätze veröffentlicht. Er ist Vorsitzender der deutschen Landesgruppe der International Nuclear Law Association.
Mit den Römischen Verträgen von 1957 wurde neben der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auch EURATOM begründet, die bis heute fortbesteht. Was ist EURATOM genau und welche Aufgaben werden hier erfüllt?
EURATOM ist die griffige Abkürzung für die Europäische Atomgemeinschaft. 1957 wurden zwei Römische Verträge geschlossen, die jeweils eine Gemeinschaft begründeten: die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und EURATOM, die sich beide an den Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1951 anlehnten. Aus der EWG hat sich seither, u.a. durch die Verträge von Maastricht und Lissabon, die heutige EU entwickelt. Der EGKS-Vertrag war auf 50 Jahre befristet und ist 2002 ausgelaufen. Der EURATOM-Vertrag ist unbefristet und die Europäische Atomgemeinschaft besteht auch heute noch im Wesentlichen in der damaligen Form fort. Sie hat neben der EU eine eigene Rechtspersönlichkeit, ihre Organe sind aber mit denen der EU vereinigt (Rat, Kommission, Parlament, Gerichtshof).
Im EURATOM-Vertrag wird der Gemeinschaft eine Reihe von Aufgaben zugewiesen. Im Vordergrund stand damals der Aufbau einer europäischen Kernenergieindustrie. Dementsprechend gibt der Vertrag EURATOM Kompetenzen und Aufgaben etwa bei der Förderung von Forschung und Entwicklung, bei der Gründung von Unternehmen, bei der Steuerung von Investitionen und bei der Sicherstellung der Versorgung mit Kernmaterial durch die EURATOM-Versorgungsagentur.
Zugleich – und das ist der zweite wichtige Aspekt – erhielt EURATOM Kompetenzen, die die Sicherheit, den Strahlenschutz und den Schutz vor unerlaubter Verwendung spaltbaren Materials betreffen. Wie die EU auch, kann EURATOM im Rahmen der ihr übertragenen Befugnisse Rechtsnormen erlassen, die für die Mitgliedstaaten verbindlich sind und von deren Behörden umgesetzt werden müssen. Bei der Kernmaterialüberwachung hat EURATOM sogar direkte Inspektions- und Eingriffsrechte.
Ganz wichtig noch: EURATOM schreibt ihren Mitgliedern nicht vor, dass sie die Kernenergie nutzen müssen. In diesem Sinne sind die Förderkompetenzen eher ein "Angebot" an die Mitgliedstaaten. Die Kontroll- und Sicherheitsvorschriften gelten aber für alle. Die kann man nicht "abwählen".
Welche Vorteile bietet EURATOM für Deutschland und was haben wir noch davon, wenn die Kernkraftnutzung in der Stromerzeugung wie geplant beendet wird?
Man muß eingangs vielleicht klarstellen, dass EURATOM nicht nur "Vorteile" im Sinne einer Dienstleistung anbietet, sondern – wie ich eben sagte – auch Anforderungen stellt, z. B. in Punkto Sicherheit und Strahlenschutz. Aber auch das ist ja letztlich ein Vorteil für die Bevölkerung. Insofern ist es richtig, von Vorteilen zu sprechen. Und in der Tat haben wir auch nach dem Abschalten der letzten deutschen Kernkraftwerke noch etwas von EURATOM.
Zunächst einmal wird es in Deutschland auch nach 2022 noch Anlagen geben, in denen mit Kernbrennstoffen umgegangen wird. Die abgebrannten Brennelemente bleiben unter der Kernmaterialüberwachung von EURATOM, und zwar selbst dann, wenn sie – was noch etliche Jahrzehnte dauern wird – aus der gegenwärtigen Zwischenlagerung endgültig ins Endlager verbracht worden sind. Standortsuche, Errichtung und Betrieb von Endlagern werden übrigens auch zunehmend von EURATOM-Sicherheitsvorschriften umfaßt. Die in den letzten Jahren vorgenommene Neuorganisation bei den Verantwortlichkeiten für die Bundesendlager in Deutschland war unter anderem durch eine EURATOM-Richtlinie veranlasst.
Dann ist wichtig, dass die EURATOM-Vorschriften nicht nur für die Kernenergie und die Beseitigung ihrer Abfälle gelten, sondern für den Strahlenschutz allgemein. Das betrifft z. B. den betrieblichen Arbeitsschutz, wenn es – wie in vielen Branchen, die mit Kernenergie gar nichts zu tun haben – um Strahlung geht, etwa bei Prüfstrahlern. Im Bereich der Medizin, bei der Strahlendiagnostik und -therapie, sind EURATOM-Vorschriften für medizinisches Personal und für Patienten von Bedeutung. EURATOM regelt sogar den Umgang mit natürlicher Strahlung, wie sie z. B. durch das Edelgas Radon in Häusern auftritt.
Und schließlich: selbst die Vorschriften zur Kernenergie bleiben für Deutschland wichtig – in dem Sinne, dass EURATOM-Vorschriften ein einheitliches hohes Sicherheitsniveau in Europa gewährleisten, das eben auch für Anlagen in benachbarten Ländern gilt. Dieser Aspekt des EURATOM-Regimes wird – bei aller verbalen Kritik an EURATOM – letztlich auch von Staaten wie Österreich und Luxemburg als Instrument geschätzt, die die Kernenergie nicht genutzt haben und ihr seit langem ablehnend gegenüberstehen.
Fazit: Seit 1957 hat sich einiges geändert. Die Kernenergienutzung ist innerhalb der EU und EURATOMs umstritten. EURATOM zwingt aber niemanden zur Kernenergie. Diejenigen Staaten, die die Kernenergie weiterhin befürworten und nutzen, profitieren von Elementen des EURATOM-Regimes wie der Sicherung der einheitlichen Versorgung. Alle Mitgliedstaaten gemeinsam sind jedoch den Vorschriften zu Sicherheit, Kernmaterialüberwachung und Strahlenschutz unterworfen, durchaus auch im Sinne einer wechselseitigen Verpflichtung. Insofern kann man sagen: der EURATOM-Vertrag füllt auch nach 60 Jahren und unter geänderten Randbedingungen die ihm zugedachte bedeutende Rolle aus.