Oktober 2016
Dr. Thomas Ernst ist seit 2006 Vorsitzender der Geschäftsleitung der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (NAGRA), die das Schweizer Auswahlverfahren für Endlager für radioaktive Abfallstoffe durchführt. Zuvor war der promovierte Chemiker in leitenden Funktionen bei der Eberhard Recycling AG und der Hydrotest AG, einem Unternehmen für Umwelttechnik und Sonderabfallentsorgung tätig.
Die Schweiz befindet sich mitten in einem Standortwahlverfahren für ein geologisches Tiefenlager – in Deutschland würde man Endlager sagen – für hochradioaktive Abfälle. Die gesetzlichen Grundlagen für das so genannte Sachplanverfahren[1] wurden 2008 geschaffen. Wie weit sind Sie bisher im Verfahren?
Der Sachplan geologische Tiefenlager ist ein dreistufiges Verfahren, das von der Schweizer Regierung 2008 in Kraft gesetzt wurde. Es definiert klare Rahmenbedingungen zur Wahl der Standorte für den Bau von Tiefenlagern. Das Bundesamt für Energie (BFE) leitet das Verfahren, spezifiziert die Rollenteilung und koordiniert die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure. Sicherheit hat dabei erste Priorität.
Momentan befindet sich das Sachplanverfahren in der zweiten Hälfte von Etappe 2. In der ersten Etappe wurden ausgehend vom Gebiet der ganzen Schweiz sechs geeignete geologische Standortgebiete ermittelt. In der zweiten Etappe wurden Standorte für die Anordnung der Oberflächeninfrastruktur in einem partizipativen Prozess erarbeitet. Anfang 2015 hat die Nagra die Ergebnisse ihres sicherheitstechnischen Vergleichs der Standortgebiete veröffentlicht und zwei davon für die weiteren Arbeiten vorgeschlagen. Dieser Vorschlag befindet sich gegenwärtig in der Behördenprüfung und geht danach in eine Anhörung, bevor die Regierung darüber entscheidet. Ausserdem wurden in den vorgeschlagenen Gebieten bereits 3D-seismische Messungen[2] durchgeführt und die Nagra hat kürzlich zahlreiche Gesuche für Tiefbohrungen eingereicht. Die Ergebnisse der 3D-Seismik und der Tiefbohrungen liefern wichtige Daten für das kommende Bewilligungsverfahren (= Genehmigungsverfahren). Etwa 2022 wird die Nagra bekannt geben, wo sie Rahmenbewilligungsgesuche für ein Lager für hochaktive Abfälle und für ein Lager für schwach- und mittelaktive Abfälle ausarbeiten wird. Bundesrat und Parlament werden Ende der 20er Jahre über die Rahmenbewilligungen entscheiden. Das Stimmvolk kann daraufhin das Referendum ergreifen.
Eine frühzeitige Bürgerbeteiligung hat im Sachplanverfahren einen grossen Stellenwert, auch als Lehre aus der Erfahrung des abgelehnten Tiefenlagerprojektes Wellenberg für schwach-und mittelaktive Abfälle. Welche Erfahrung hat man mit der Bürgerbeteiligung bisher gemacht, haben die Bürger diese Möglichkeit angenommen?
In allen potenziellen Standortregionen wurden sogenannte Regionalkonferenzen gegründet. Diese setzen sich zusammen aus Delegierten aus Politik, Wirtschaft, Gewerbe und Interessenorganisationen sowie Bürgerinnen und Bürgern und vertreten die Interessen, Bedürfnisse und Werte der jeweiligen Standortregion im Sachplanverfahren. Es darf gesagt werden, dass dieses Verfahren durch die Einbeziehung aller Akteure erfolgreich ist, auch wenn es nicht kritikfrei verläuft.
Die regionale Partizipation bezeichnet ein Instrument der Mitwirkung – im Sinne von Einbeziehung und Mitsprache. Die Entscheidungsgewalt liegt jedoch zuletzt beim Bund. Einige Kritiker sind der Meinung, dass die Mitsprache zu eingeschränkt sei, da ein lokales Vetorecht fehle. Dies darf es aber bei einem Infrastrukturprojekt von nationaler Bedeutung nicht geben. Das Primat der Sicherheit kann bei einem lokalen Veto nicht mehr garantiert werden. Das Gros der Mitwirkenden im Sachplanverfahren schätzt die Partizipation aber sehr und engagiert sich, um die Entsorgung im Interesse des ganzen Landes bestmöglich zu lösen.
Im Sachplanverfahren ist für die Standortwahl keine bergmännische untertägige Untersuchung vorgesehen, wie man sie vom Standort Gorleben in Deutschland kennt, sondern übertägige geowissenschaftliche Methoden wie seismische und andere geophysiche Aufnahmen oder Bohrungen. Könnte dieses Vorgehen aus Ihrer Sicht auch für Deutschland eine Option sein?
Die Schweiz verfügt bereits über zwei bergmännische untertägige Forschungslabors, in denen Untersuchungen auch im Maßstab 1:1 durchgeführt werden können. Die übertägigen, geowissenschaftlichen Untersuchungsmethoden, die wir in der Schweiz anwenden, liefern die erforderlichen standortspezifischen Informationen. Die oberste Devise in der Schweizer Vorgehensweise lautete seit jeher Sicherheit. Und Sicherheit kann mit unserer Vorgehensweise gewährleistet werden.
Wir sehen einen Vorteil der übertägigen Untersuchungsmethoden darin, dass das darunterliegende Gestein nicht beeinträchtigt wird. Ziel unserer Vorgehensweise ist explizit, das Wirtgestein, speziell den Einlagerungsbereich untertage, so wenig wie möglich zu schädigen.
Nach der Erteilung der Rahmenbewilligung werden auch in der Schweiz untertägige bergmännische erdwissenschaftliche Untersuchungen vor Ort durchgeführt. In den sogenannten Testbereichen sind die sicherheitsrelevanten Eigenschaften des Wirtgesteins zur Erhärtung des Sicherheitsnachweises standortspezifisch zu bestätigen, bevor eine Betriebsbewilligung erteilt wird.
Diese Kombination von Forschungslabors, standortspezifischen geowissenschaftlichen Untersuchungen und der Verifikation der sicherheitsrelevanten Eigenschaften am gewählten Standort ist ein pragmatischer Weg, für den sich der Schweizer Gesetzgeber entschieden hat.